„Das Topmanagement ist Teil des Prozesses“
Im Sonderheft „Mitarbeiterbefragung Spezial“ der Fachzeitschrift Personalwirtschaft vom September 2017 beleuchtet Wissenschaftspartner Dr. Jürgen Kaschube im Interview mit Winfried Gertz die Erfolgsfaktoren zur Ausschöpfung des Potenzials einer Mitarbeiterbefragung und gewährt einen Einblick in die Fallstricke der Organisationsentwicklung.
„Das Topmanagement ist Teil des Prozesses“
Mitarbeiterbefragungen werden immer beliebter, doch ihr Potenzial ist noch nicht hinreichend ausgeschöpft.
Über die Gründe sprachen wir mit dem Psychologen Jürgen Kaschube, der uns als Forscher und Berater einen Einblick in die Fallstricke der Organisationsentwicklung gewährt.
Interview: Winfried Gertz
Personalwirtschaft: Herr Kaschube, zu welchen Themen und Anlässen befragen Unternehmen ihre Mitarbeiter?
Jürgen Kaschube:
Neben dem klassischen Stimmungsbild in der Belegschaft hinsichtlich Engagement, Bindung und Zufriedenheit widmen sich Befragungen auch rechtlichen Themen, etwa der psychischen Gefährdungsbeurteilung. Meist werden Mitarbeiterbefragungen jedoch als Instrument der Organisationsentwicklung eingesetzt. Erfahren will man, wo es im Unternehmen brennt und woran vordringlich gearbeitet werden sollte. Nicht zuletzt kommt eine Mitarbeiterbefragung auch als Evaluationsinstrument in Betracht: Wie ist es um Kultur, Führung oder etwa Digitalisierung bestellt?
Wie gut schlagen sich Unternehmen dabei?
Das Bewusstsein, dass Befragungsergebnisse ernst zu nehmen sind und daran gearbeitet werden muss, ist spürbar gewachsen. Es mangelt jedoch an nötiger Tiefe. Man ist sich im Klaren, dass etwas getan werden sollte, doch die Organisation reagiert noch nicht adäquat darauf. Dennoch: Aus dem häufig begangenen Fehler, dass man bei Vorlage der Ergebnisse den Mantel des Schweigens über die Mitarbeiterbefragung legt, haben viele Organisationen offenkundig gelernt.
Worauf legen Unternehmen ihr Augenmerk?
Zu beobachten ist, dass man sich einzelnen Themen differenzierter zuwendet. Zielgerichtete Befragungen nehmen zu. Man weiß um das Potenzial des Instruments, doch in der operativen Umsetzung besteht oft noch Unsicherheit. Sowohl die Projektbetreiber als auch ihre operativen Partner haben sich im Vorfeld noch nicht hinreichend abgestimmt. Marketing, HR oder der Organisationsabteilung fehlen nicht selten verlässliche Ressourcen für Maßnahmen im Folgeprozess.
Unter welchen Voraussetzungen kann eine Mitarbeiterbefragung ihr volles Potenzial entfalten?
Grundsätzlich sollte eine Mitarbeiterbefragung als Teil des Gesamtprozesses der Organisationsentwicklung verstanden werden. Aus ihr gehen zentrale Impulse hervor. Operativ ist das Instrument im besten Fall auf ein genaues Ziel ausgerichtet und liefert so präzise Ableitungen für den Folgeprozess. Ein Fragebogen mit nur 20 Punkten kommt dafür ebenso wenig in Betracht wie ein überbordender Katalog aus hunderten Fragen. Die Aufgabe lautet, eine vernünftige Balance zwischen der Thementiefe und der Fragenauswahl zu treffen, um erste Ansätze für den Folgeprozess zu formulieren. Letztlich sollte sich das Topmanagement seiner Rolle bewusst sein: Es ist nicht Auftraggeber, sondern Teil des Prozesses.
Was hält Unternehmen davon ab, das Instrument der Organisationsentwicklung wirksam auszuschöpfen?
Bleiben wir beim Topmanagement. Es ist als Treiber für die positive Richtung der Veränderung zuständig. Es muss auch offen dazu stehen, wo und warum es keinen Handlungsspielraum für Veränderungen gibt. Diese Verpflichtung definiert die Rolle des Managements im Prozess, freilich mangelt es an diesem Verständnis hier und dort noch etwas. Von Vorteil ist, wenn alle involvierten Parteien, einschließlich Betriebsrat und Berater, sich zuvor über Ziele, Prozess und Rahmenbedingungen verständigen. Während Banken sich dank großer Erfahrung mit Change-Projekten dabei leichter tun, benötigt man im produzierenden Mittelstand einen längeren Atem.
Ein Manko vieler Befragungen war und ist, dass die Ergebnisse dem Management nicht behagen und der eigentlich notwendige Follow-up nicht realisiert wird.
Was können Sie als wissenschaftlicher Berater dagegen tun?
In Vorgesprächen muss ich entschieden auf die großen Chancen der gemeinsamen Veränderung hinweisen, aber auch auf die Risiken einer nicht ernsthaften Mitarbeiterbefragung: Das Management verliert an Glaubwürdigkeit und das Engagement der Mitarbeiter geht zurück. Kniffliger ist es, wenn die primär abgefragten Themen ganz gut beurteilt werden, sich aber an anderer Stelle unerwartet Handlungsbedarf erweist. Unter Rückgriff auf Forschungsergebnisse kann ich dann aufzeigen, wie man lauernde Gefahren frühzeitig erkennt und gezielt gegensteuern kann.
Oft geht es in Mitarbeiterbefragungen um Führungsfragen. Warum kommt Führung auf den Prüfstand?
Ein Beispiel: Viele Entscheidungsträger verdanken ihre Führungsposition ihrer hohen fachlichen Expertise. In Zukunft wird stärker die Fähigkeit zur Förderung der Mitarbeiterentwicklung und der offenen Zusammenarbeit an Schnittstellen gefordert sein. Richte ich Führung nicht darauf aus, laufe ich Gefahr, dass sich Führungskräfte mit ihren Teams künftig hinter Wagenburgen verschanzen.
Als Berater wollen Sie auch hier Bewusstsein schaffen. Was ist der springende Punkt?
Das Bewusstsein über die Notwendigkeit von Veränderung ist unter Führungskräften durchaus vorhanden. Ich erlebe sie als selbstreflektiert. Woran es mangelt, ist das Bewusstsein über den Weg. Wie stark steuern wir, und wie sehr lassen wir gleichzeitig Partizipation zu? Um diese Balance ringen viele Führungskräfte.
Im Zeichen der Digitalisierung gewinnt man aktuell den Eindruck, zentrale Veränderungen sollten quasi über Nacht realisiert werden. Wie bremsen Sie solche Überlegungen, die ja auch durch wirtschaftlichen Druck angestoßen werden?
Ich möchte nicht bremsen, sondern eher Bewusstsein schaffen für den Lernprozess. Führt man sich erst vor Augen, wie lange der einzelne Mensch benötigt, bis er etwas gelernt hat, kann man auch realistisch einschätzen, wie lange eine Organisation aus lernenden Individuen, die voneinander lernen, dafür braucht. Das funktioniert allein, wenn das Topmanagement den Lernprozess Schritt für Schritt vorlebt. Kulturwandel in viele kleine Lernschritte herunterbrechen, das ist die Aufgabe.
Welchen Zeitrahmen halten Sie für sinnvoll?
Es ist nicht damit getan, einen Schalter umzulegen. Man muss kontinuierlich an ihm drehen. Wer im Prozess kleine Erfolge als „quick wins“ verbucht, entwickelt sich positiv weiter und bleibt am Ball. Im Sport entscheide ich mich auch nicht dafür, am nächsten Tag einen Marathon zu laufen, sondern etwa in zwei Jahren. Durch gezieltes Training gewinne ich an Kondition, was mich zusätzlich motiviert.
Zurück zum Thema Führung. Was blockiert Unternehmen auf dem Weg zu mehr Partizipation, wie können sie die Hürden überwinden?
Diese Problematik zeigt sich besonders in der mittleren Führungsebene. Die Generation Y reklamiert zum Beispiel mehr Freiraum für Kommunikation, Kooperation und selbstbestimmte Arbeit, erlebt aber ihre Vorgesetzten nicht so partizipativ. Sie selbst wiederum werden eher von oben „geführt“. Erst wenn die oberste Führungsebene dieses partizipative Verhalten vorlebt, greift die Veränderung. Mein Chef schafft das, dann schaffe ich das auch – so lautet der positive Treiber.
Der Wunsch nach intensiverer Kommunikation und Kooperation drückt sich auch im Einsatz neuer Feedbackinstrumente aus. Wie viel Substanz steckt in diesen Tools, wo sehen Sie deren Grenzen?
Stimmt die Einstellung, kann ein Tool durchaus seine Stärken entfalten. Mangelt es jedoch daran, liefert das Tool zwar unverzüglich Daten, die mir aber nichts nützen. Ein Tool verändert nicht die Einstellung. Zugespitzt könnte man auch sagen, dass Technik einen Teil des Problems löst und gleichzeitig ein neues schafft. Als Wissenschaftler benötige ich ein Modell, in das ich meine Erkenntnisse einbringen kann, um sie zu bewerten. Auf Mitarbeiterbefragungen bezogen heißt das: Ich brauche immer die gemeinsame Interpretation der Ergebnisse. Das kann ein Tool nicht leisten. Grundsätzlich ist IT lediglich ein „Facilitator“, aber kein Treiber.
Richten wir den Blick in die Zukunft. Sie sagen, die klassische Mitarbeiterbefragung löse sich zusehends auf. Was genau beobachten Sie?
Die Mitarbeiterbefragung wird zu einer Befragung von Mitarbeitern zu bestimmten Themen. Das Instrument wandelt sich im Sinne der Partizipation zu einer Plattform des Austausches. Künftig werden wir ein Nebeneinander der klassischen Mitarbeiterbefragung und Formen des schnellen Austausches beobachten, wobei qualitative Methoden wie Open Space an Bedeutung gewinnen. Wir müssen das Instrument flexibler gestalten und es stärker den Bedürfnissen anpassen.
Was heißt das für Berater?
Angesichts steigender Anforderungen werden sie künftig mehr Qualität aufbieten müssen. Sie werden nicht mehr mit einem Lösungsangebot allein erfolgreich sein können, sondern nur als Teil von Beratungsnetzwerken. Aus ihnen rekrutieren sich lösungskompetente Teams für jede einzelne hochindividuelle Problemstellung.